Meine Flucht allein

Ich wollte alle Brücken hinter mir abbrechen und nichts unversucht lassen, meine Fahrt nach Deutschland zu bewerkstelligen, selbst, wenn ich dieses Ziel als Schiffsjunge eines Europadampfers erreichen müsste.

Vor und hinter mir war nichts zu sehen als die Gleise des Paraguay-Express. Rechts und links fiel der Bahndamm steil ab. Ich konnte also meinen Weg nicht verfehlen, wenn ich immer geradeaus wanderte.

Es ging immer weiter. Einmal überlegte ich mir, was wohl werden würde, wenn plötzlich ein Zug käme.

Überfahren lassen? Auf keinen Fall!

Den Bahndamm hinunter springen? Das war nicht gut möglich!

Also gab es nur eins: Immer weiter! Immer vorwärts!

Um diese Gedanken abzustreifen, fing ich an, laut zu singen, und dachte an andere Sachen.

Und warum sollte auch gerade jetzt ein Zug kommen?

Es kam keiner, wenigstens vorläufig nicht. Immer weiter tippelte ich mit meinen kurzen Beinen, und der Gedanke, frei zu sein, beflügelte meine Schritte. Bis zum Abend wollte ich unbedingt die Hauptstadt erreichen.

Langsam schlich die Zeit vorwärts, aber mir ging es trotzdem viel zu schnell. Es kam sehr selten vor, das ich einmal rückwärts blickte. Immer nur vorwärts, immer vorwärts!

Oft kam ich an kleinen Bahnhöfen vorbei und es begegneten mir allerhand Leute. Ständig musste ich damit rechnen, dass mich jemand fragen würde, wer ich sei und wo ich hin wollte.

Meine Sprachkenntnisse waren ja schon bemerkenswert, aber es wäre doch sofort aufgefallen, dass ich ein Ausländer war. Dann hätte es leicht geschehen können, dass ich anstatt in Asuncion auf der nächsten Polizeiwache gelandet wäre, und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.

Dann kam ich an eine große Brücke, über die ich mich nicht so richtig getrauen wollte. Es war natürlich ziemlich gefährlich, denn die Brücke bestand nur aus den Gleisen, und den darunterliegenden Schwellen, die aber alle sehr auseinander lagen. Unter der Brücke rauschte in fünf Meter Tiefe ein kleiner Fluss hindurch, und ich konnte es nicht als Vergnügen betrachten, da einen Kopfsprung hinunter zu machen. Also musste hier sehr vorsichtig zu Werke gegangen werden. Auf allen Vieren krabbelte ich dann los, in der Hoffnung, das andere Ende lebend zu erreichen.

Ich hatte ungefähr die Mitte erreicht, als ich einen Zug anrollen hörte. Natürlich beschleunigte ich meine Krabbelei um ein Vielfaches. Aber wie es der Teufel nun einmal in solchen Fällen will: ich konnte vor Eintreffen des Zuges das andere Brückenende nicht mehr erreichen. Kurz entschlossen versuchte ich nun unter das Gleis zu gelangen, um mich dort in einen der Schrägpfeiler, die die Brücke vor dem Einstürzen bewahrten, einzuhängen. Vielleicht war dieses Unternehmen nicht einmal so schwer, wie es aussah, aber es gehörte immerhin eine Portion Mut zur Ausführung des Planes. Gott sei Dank gelang es mir leidlich, und ich kauerte gerade richtig, als die Lokomotive über die ersten Schwellen donnerte. Es war ein Gefühl, als stürze das ganze Gerüst zusammen. Aber es hielt. Es hielt genau so gut, wie ich mich festhielt. Die endlose Reihe der Wagen rollten über mich hinweg, und ich glaubte, eine halbe Ewigkeit in dieser unangenehmen Lage verbringen zu müssen. Man kann sich denken, wie tief ich aufgeatmet habe, als ich unter Anwendung meiner ganzen Kraft diese ungemütliche Lage endlich verlassen hatte, und meinen Weg, natürlich wieder auf allen Vieren, fortsetzten konnte. Bald hatte ich dann dieses Abenteuer hinter mir, und durfte aufrecht weitermarschieren.

Dann begann es dunkel zu werden. Eine Dämmerung wie bei uns gibt es dort nicht.

Ich erkundigte mich bei einem Schafhirten, dem ich begegnete, wie weit es noch bis Asuncion sei.

„Oh, sagte er, das ist noch sehr weit, da wirst du heute nicht mehr hinkommen!“

Eine erfreuliche Botschaft war das nun nicht gerade, aber ich ließ mich nicht erschüttern. Ich wusste, dass es nur auf mich selbst ankam, meine Widerstandskraft vor mir selbst zu beweisen. Also immer weiter!

Eine Ewigkeit schien mir vergangen zu sein, doch ich schaute nicht um mich und rastete nicht. Im gleichen Tempo wie zu Anfang des Marsches setzte ich meinen Weg fort.

Oder schien es mir vielleicht nur so? Wurden die Schritte nicht doch immer kleiner, müder und langsamer?

„Du kannst ja gar nicht mehr richtig laufen“, raunte mir ein kleiner Teufel ins Ohr.

„Hunger hast du ja auch schon zum Umfallen und Durst. Lege dich doch ins Gras, das so einladend um dich wächst, und schlaf. Schlaf, bis die Sonne wieder am Himmel steht!“

Aber ich hörte nicht auf diese Stimme, die mich verführen wollte. Und Hunger und Durst? Keine Spur! Alles nur Einbildung. Ist ja direkt eine Wonne, so vorwärts marschieren zu können, redete ich mir ein. Und es nützte auch etwas, dieses Einreden.

Als gegen zehn Uhr das Gleis aus einem Waldstück herauskam, tauchten tausend kleine Lichter vor mir auf. Wie leicht wurde mir da, als wäre mir ein Zentnerstein vom Herzen gefallen. Ich hörte es ganz deutlich schlagen, dieses kleine ungestüme, freiheitsuchende Herz. Wie viele Schwierigkeiten würde ich noch zu überstehen haben, bis ich das Ziel erreicht haben würde, das ich mir gesteckt hatte? Würde ich es jemals erreichen? An gutem Willen sollte es nicht fehlen, und an Mut gleich gar nicht.

Am äußersten Ende der Stadt konnte ich gerade noch eine Trambahn erreichen, die eben abfahren wollte. Ich sprang auf, und schon ging‘s los.

Das war doch etwas ganz anderes, als dieses langweilige Marschieren. Ich hätte ja auch schon von Luque mit der Bahn fahren können, aber ich wollte doch meinen Bruder treffen. Und dann war es mir auch zu gefährlich, denn ich hätte leicht jemandem in die Arme laufen können, der meinem Vater bekannt war, und dann wäre mein Abenteuer zu Ende gewesen. Der Hauptgrund aber war der, dass ich so eine ganze Menge Geld gespart hatte, denn meine Kasse war sowieso recht dünn.

Nun hatte ich es geschafft! – Wie erlöst ließ ich mich in die Polster fallen und schloss die Augen. Am Markt stieg ich aus und wollte mich dort nach einem Nachtlager umsehen, aber alle Tore des „Merkados“ waren geschlossen. Deshalb ließ ich aber den Kopf nicht hängen. Es gab ja schließlich noch andere Möglichkeiten zum Übernachten.

Ich schlenderte durch die stark bewaldeten Parkanlagen dem Hafen zu. Vielleicht bot sich hier eine Schlafgelegenheit. Erst jetzt merkte ich wie müde ich war, und setzte mich auf eine Bank, die im tiefen Schatten stand. Ich wollte nur ein paar Minuten ausruhen, jedoch die Augen fielen mir zu, und bald war ich in einen wunderbaren Schlaf gesunken. Mein Schlafzimmer hatte eine grüne Tapete, und der schwarze, sternübersäte Himmel wölbte sich hoch über mir.

Es war gerade Mitternacht vorüber, als ich von einem Mann geweckt wurde, den ich sofort als einen Polizisten erkannte.

„Buenos tardes“, grüßte ich noch halb im Schlaf, in dem ich aber die Höflichkeitsform nicht vergaß.

„Was tust du hier mitten in der Nacht?“, fragte er. „Soll ich dich zur Polizei bringen? Wo bist du zu Haus?“

Oh, das waren viele Fragen auf einmal. Verstanden hatte ich nur die Hälfte, aber als das Wort „Polizei“ an mein Ohr drang, war ich sofort hell wach, und antwortete schnell:

„No ala policia!“ und dabei klatschte ich fest in die Hände, wie bei uns die kleinen Kinder „Bitte, bitte“ machen. Ich war zwar schon ein großes Kind, aber im Augenblick spielte das ja keine Rolle. Dann gab ich schnellstens noch die weitere Erklärung: ich wohne bei meinem Onkel in der Pension „Aleman“, von wo ich mich verlaufen habe. Gleich darauf fiel mir jedoch ein, dass ich da wieder eine große Dummheit gemacht hatte, aber es war nichts mehr dran zu ändern, denn der gute Mann hatte es bereits verstanden und wie ein Bär vor sich hingenickt.

„Buenos, vamos“, und er packte mich am Arm und ab gings, der Pension Barrasch entgegen. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen, und wir trottelten ruhig und friedlich neben einander her ohne ein Wort zu sprechen.

Und dann waren wir auch schon angelangt. Der Polizist polterte einige Male mit seinem Stiefel an die Tür und bald darauf ließen sich schlürfende Schritte vernehmen. Herr Barrasch öffnete selbst und war nicht wenig überrascht, als er mich in Begleitung eines Vertreters der bürgerlichen Sicherheit erblickte.

„Buenas noche“, Ud. Konose este muchacho?“ „Natürlich kenne ich ihn,“ gab Herr Barrasch zur Antwort und wollte gerade weitersprechen, als ich ihm schnell ins Wort fiel: „Seien sie bitte nicht böse, dass ich sie als meinen Onkel ausgegeben habe, bei dem ich zur Zeit wohne. Bestätigen sie das bitte dem Schutzmann und nehmen sie mich heute Nacht auf. Ich bitte sie darum!“

„Senor müssen entschuldigen, mein Junge hat sich verlaufen. Die Sache hat also nichts auf sich, und ist wohl nun erledigt!“

Der Pensionsinhaber war gar nicht richtig bei der Sache, konnte sich aber doch schnell fassen. Er drückte meinem Nebenmann ein Trinkgeld in die Hand, welches dieser mit einem Grinsen, das wahrscheinlich ein Lächeln sein sollte, einsteckte. Dann berührte er mit zwei Fingern kurz seine Mütze und trollte sich davon.

Herr Barrasch nahm mich beim Arm und führte mich in sein Privatzimmer. Hier bot er mir einen Stuhl an, und nahm mir gegenüber Platz. Dabei machte er eine so ernste Miene, die er bei einem Begräbnis bestimmt nicht besser hätte machen können.

Ich wartete geduldig, bis er sich bequemte, das erste Wort zu sprechen. Aber er schien noch nicht richtig zu wissen, was er zu Beginn der Unterhaltung sagen sollte. Dann brach er endlich das Schweigen und fragte:

„Du bist doch der kleine Reissner, nicht wahr? Willst du mir nicht sagen, wie es kommt, dass dich die Polizei mitten in der Nacht im Stadtpark aufliest? Wo ist denn dein Vater?“

„Ja“, sagte ich etwas schüchtern, „die Sache ist so: Ich bin nämlich von meinem Vater in Luque fortgelaufen. Ich kann es bei ihm nicht mehr aushalten, denn er schlägt mich oft sehr grundlos. Jetzt bin ich eben davon, und will versuchen, mich nach Deutschland durchzuschlagen. Dass mich der Schutzmann im Park gefunden hat, war eigentlich nicht im Programm vorgesehen, aber ich hoffe doch, dass Sie mich nicht zu meinem Vater zurückbringen werden, der schlägt mich halb tot.

Bitte seien Sie so gut, und lassen mich bis morgen oder übermorgen hier bei ihnen wohnen. Ich will mir eine Arbeitsstelle suchen und das Geld für die Rückfahrt nach Deutschland zusammensparen.“

„Aber Junge, das ist doch der reine Wahnsinn! Du bist wohl nicht mehr ganz gescheit im Kopfe. Dein Vater…“

„Bitte lassen Sie meinen Vater aus dem Spiel, zu dem will ich nicht mehr zurück, und wenn sie mir nicht versprechen wollen, dass Sie mich nicht verraten werden, dann will ich Ihr Haus lieber gleich wieder verlassen!“

„Nein, nein“, sagte er schnell, „heute bleibst du mal auf jeden Fall hier und morgen werden wir dann schon weitersehen!“

Ich hatte ein seltsames Misstrauen, als ich ihn so sprechen hörte, und bald sollte ich erfahren, dass ich mich nicht getäuscht hatte.

Wir unterhielten uns dann noch über dieses und jenes, aber von meinen weiteren Plänen ließ ich nichts mehr verlauten. Als Herr Barrasch aufstand, war es mittlerweile zwei Uhr geworden. Trotzdem wollte er mir noch etwas zu Essen bringen, da er meinte, ich sei sicher sehr hungrig, womit er allerdings auch das Richtige getroffen hatte. Auch ein Glas Rotwein stellte er mir auf den Tisch und sagte, das sei zur Stärkung unbedingt notwendig. Ich war ihm für seine Freundlichkeit sehr dankbar, doch das Gefühl der Unruhe konnte ich nicht loswerden. Gesättigt und todmüde ließ ich mich dann in das mir angewiesene Bett fallen und schlief sofort ein.

Erst gegen Mittag des nächsten Tages erwachte ich, als bereits zum Essen geläutet wurde. Schnell zog ich mich an, denn ich schämte mich ein wenig, solange geschlafen zu haben. Aber man hatte mich nicht vermisst. Bei der Tafel hielt ich eifrig Umschau, ob nicht ein Gast da war, der früher schon hier gewohnt hatte, aber ich sah niemand.

Nach dem Essen ging ich fort, um nach Arbeit zu suchen. Ich wusste noch nicht, wie schwer das war, und dann sollte ich erfahren, dass es an diesem und den beiden folgenden Tagen geradezu ausgeschlossen war, etwas zu finden. Unglücklicher Weise war nämlich gerade „Semana Santa“, die heilige Woche. Das war ein Fest, an dem niemand zu Hause blieb. Ganz Asuncion war auf den Beinen, um den Rummel mit zu machen. Alle Geschäfte und Betriebe waren geschlossen, der Postverkehr völlig lahmgelegt, und kein Mensch wäre zum Arbeiten zu bewegen gewesen. Nur die Eisenbahn hatte ihren Fahrplan beibehalten und vielleicht noch ein paar Sonderzüge eingesetzt, um die Pilger und Schaulustigen von nah und fern nach der Hauptstadt kommen zu lassen.

Schon am frühen Morgen läuteten die Glocken in allen Kirchen und es klang wie weihnachtliche Musik. In den Straßen sammelten sich die Menschen zu Hunderten und Tausenden. Man hätte direkt annehmen können, ganz Paraguay wäre auf den Beinen. Riesige Umzüge mit Militär- und Polizeikapellen zogen kreuz und quer durch Asuncion. Große, in lange Seidenkleider gehüllte Gottesfiguren wurden umhergetragen, und die Menschen liefen sich danach die Beine aus. Jeder wollte alles sehen. Manche waren sogar so fanatisch, dass sie glaubten, sie müssten unbedingt die herabhängenden Seidenbänder küssen, selbst wenn sie sich durch die Menge durchschlagen mussten.

Alles, was einen Mund hatte, brüllte so laut er nur konnte!

Asuncion feierte die Semana Santa!

Das Volk war sozusagen hingerissen von der religiösen Größe dieses Tages. Man vergaß fast das Essen. Das Wichtigste war, man konnte der Mutter Maria huldigen und Ihr für Ihre Güte danken.

Das war eben ihr Opfer! Was sollten sie sonst tun?

Alles lief hinter der Musik, den buntbehangenen Pastoren und den vermummten Heiligenbildern her. Viele wussten nicht einmal, warum sie das taten. Sie fragten nicht, wohin es ging, sie schrien nur alle so laut sie eben konnten.

Für mich, der ich noch nichts davon verstand, waren das alles dumme Späße und sinnloses Treiben. Ich beobachtete nur, wie jeder von den farbenprächtigen Umzügen mitgerissen wurde, und wer einmal drin war, der kam nicht mehr heraus.

So ging es jedenfalls mir.

Vielleicht war ich auch ein wenig zu neugierig.

Als der heilige Antonius vorbei ging, ich wollte sagen, vorbei getragen wurde, wagte ich mich ein bisschen zu weit vor, und merkte sofort, dass mir der Rückweg abgeschnitten war. Schon war ich im Strudel des tobenden Menschenknäuls drin. Meine kurzen Beine konnten gar nicht so schnell ausschreiten, wie es nötig gewesen wäre, aber wenn ich versuchen wollte, langsamer zu gehen, wurde ich von den Nachfolgenden immer wieder vorwärts gestoßen und getrieben. Ich hatte bald keine Ahnung mehr, wo ich mich befand. Rechts und links, vor und hinter mir: nichts als die tobende Masse.

Ab und zu sandte ich einen sehnsuchtsvollen Blick zum heiligen Antonius empor, dass er mich aus dieser peinlichen Lage befreien solle, aber der konnte mir auch nicht helfen. Er musste sich selbst durch die Weltgeschichte tragen lassen. Er musste sich alles gefallen lassen, was die Menschen mit ihm anstellten.

Zwei Stunden ging es nun so durch die Straßen der Stadt. An den Häusern flatterten überall bunte Wimpel und Fahnen. Vor mir spielte eine Militärkapelle einen aufreizenden Marsch, hinter mir sang ein Männerchor melancholische Kirchenlieder. Fast schien es mir, als befinde ich mich auf einem Jahrmarkt, und ich war mehr als glücklich, als die Menge dann endlich vor einem großen Gebäude stehen blieb und sich teilte. Dann wurde ein großes Tor sichtbar, das ich als Garageneingang ansah. Die auf Tragbahren geladenen Puppen verschwanden nach und nach in dem genannten Eingang, wo sie im Hintergrund abgesetzt wurden. Die Musik spielte jetzt etwas leiser und man wartete vermutlich darauf, dass sich die Menge beruhigen würde, um jeden Einzelnen noch einmal in den Raum einzulassen.

Natürlich ließ mir die Neugierde keine Ruhe. Ich musste unbedingt sehen, was da drinnen los war. Doch ich wurde sehr enttäuscht. In der Garage herrschte eine schlechte Luft. Es roch nach Weihrauch und Rindertalgkerzen. Die Wände waren mit langen dünnen Kerzen gespickt, die ein feierliches Licht in den Raum zauberten. Ganz im Hintergrund standen unbeweglich die zwölf Apostel, und ließen sich, ohne mit der Wimper zu zucken, die seidenen Kleider küssen. Die Menschen waren jetzt sehr still und andachtsvoll, als sie den Raum verließen.

Draußen atmeten sie erleichtert auf. Ihre Herzen mochten gerührt gewesen sein von dem verflossenen Rausch der Musik und des Gebrülls.

Dann lenkten alle ihre Schritte zum Präsidentenpalast, wo der oberste Seelenhirt der National-Kathedrale eine große Predigt halten wollte. Ich hatte keine Lust mehr, mir das noch anzusehen, denn der verflossene Nachmittag hatte mich dermaßen angestrengt, dass ich mich entschloss, den Heimweg anzutreten.

Als ich in der Pension angekommen war, bat ich Herrn Barrasch um einen Briefbogen mit Umschlag, was er mir auch gern gab. Dann setzte ich mich hin, und schrieb den ersten Brief an meine Mutter in Deutschland.

Ich schilderte ihr die lange Fahrt über den Ozean und erzählte vom Äquatorfest, von unserer Ankunft in Asuncion und meiner Flucht aus Luque. Sie sollte an allem teilhaben, was ich erlebt hatte. Sie sollte sich in dieses fremde Land versetzt fühlen, und alles miterleben, was ich gesehen hatte. Ich schüttete ihr mein Herz aus und schrieb von all dem, was mich bewegte. Ich wusste, dass sie mich verstand und dass sie mit ihren Gedanken bei mir war, zu jeder Stunde.

„Mach Dir nur keine Sorgen, liebe Mutti,“ schrieb ich, „ich werde meinen Weg schon finden!“

Den verschlossenen Brief übergab ich dem Pensionsinhaber mit der Bitte, um Weiterbeförderung, was er mir auch gern versprach. Ich war so sehr beruhigt, als ich diese Zeilen geschrieben hatte. Bisher war mir ja jede Gelegenheit versagt geblieben, an sie zu schreiben, und es wurde schon höchste Zeit, dass sie einmal eine Nachricht erhielt.

Wie wird sie wohl über meine Flucht denken, und was wird sie sich nun wieder für unnötige Sorgen machen? Hofft sie auch auf ein baldiges Wiedersehen, wie ich?

Es war doch gar nicht anders möglich! Sie würde warten, immerzu warten! –

Und gar zu lange könnte es ja auch nicht dauern, wenn wir uns beide sehr anstrengten und alles daran setzten, die Heimreise für Günther und mich zu erzwingen!

Ja Günther! – Wo war er geblieben? – Es wollte mir nicht in den Kopf, dass er noch in Luque sein sollte, aber vielleicht war er plötzlich ängstlich geworden? Vielleicht hatte er sich doch nur irgendwo aufgehalten, um später wieder in unser kleines Haus zurückzukehren? Möglich war es ja, aber mir schien es unwahrscheinlich. Ich war fast davon überzeugt, dass er sich verlaufen hatte. Oder war mein Wink ihm nicht klar genug gewesen? Hatte er kein Vertrauen zum Gelingen des Planes mehr gehabt? Tausend Fragen, die ich nicht beantworten konnte.

Mit Herrn Barrasch sprach ich in diesen Tagen nicht mehr, denn ich wollte bald aus diesem Haus fort, dass mir nicht ganz geheuer schien. Aber bis zum Ende der „Semana Santa“ musste es noch gehen, denn in diesen Tagen war jedes Arbeitsuchen sinnlos.

Und dann waren die Festtage vorbei. Ich hatte noch keine Zeit zum Flüchten gehabt, und wohl auch keine richtige Gelegenheit gefunden.


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