Mutter erreicht mein Brief in Deutschland

Langsam war der Briefträger die zwei Etagen empor gestiegen, nachdem er sich erst an der Haustüre gründlich überzeugt hatte, dass es auch wirklich Wettinerstraße Nummer zwölf war. Dann las er umständlich die Namenschilder an den Wohnungstüren.

„Aha, Schumann“! murmelte er vor sich hin. Dann steckte er einen dicken Brief in den Kasten und drückte auf die Klingel. Es schien aber niemand zuhause zu sein. Nachdem er eine Minute gewartet hatte, schüttelte er sein ergrautes Haupt, und stieg die Treppen wieder hinunter.

Meine Mutter kam erst mittags aus der Firma nach Hause. Sie war gezwungen mitzuverdienen, denn ihr zweiter Mann konnte mit seinem geringen Lohn die Familie fast nicht ernähren, nachdem er lange Zeit arbeitslos gewesen war.

Ihr erster Blick galt natürlich dem Briefkasten und es traf sie wie ein Keulenschlag, als sie den Brief mit der fremden Marke sah. Die Tränen liefen ihr vor Freude über die Wangen, und sie brachte es vor Aufregung nicht fertig, den Brief zu öffnen. Sie zitterte am ganzen Körper, und schaute immer wieder wie abwesend auf den dicken Umschlag in ihrer Hand, als glaubte sie zu träumen. Mein Stiefbruder Gerd, der eben aus der Schule kam, musste sofort zur Großmutter gehen, und sie zum Öffnen des Briefes herüber holen. Als meine Großmutter den Brief sah, konnte auch sie die Tränen nicht mehr halten. Dann schnitt sie mit einem tiefen Seufzer den Umschlag auf und las meiner Mutter die Zeilen vor. Die aber verstand kein Wort. Erst nach und nach konnte sie sich beruhigen und ihre Gedanken zusammen nehmen.

„Mein Junge“, flüsterte sie immer wieder. „Mein Junge“, ohne den Inhalt des Schreibens richtig erfasst zu haben. Dann legte sie sich auf das Sofa, und weinte sich erst noch einmal richtig aus.

Als mein Stiefvater abends von der Arbeit heimkam, musste er ihr nochmals jedes Wort langsam und deutlich vorlesen. Mutti war nicht fähig, etwas zu sprechen, so sehr hatte sie die Freude übermannt.

In der Nacht konnte sie nur leicht einschlummern, und es lag wie ein Albdruck auf ihrer Brust. Sie wischte sich über die Stirn, auf der Schweiß perlte, und versuchte ruhig nachzudenken.

Ich war ihr im Traum erschienen. Irgendwo hatte ich am Meeresstrand gestanden, und ihr über das Wasser zugewinkt. Dann war starker Nebel aufgekommen, und hatte mich verdeckt. Ich war aus ihrem Blickfeld verschwunden, und eine Stimme hatte ihr zugeflüstert:

„Du brauchst gar nicht zu warten, er kommt nicht wieder!“ —

Ganz deutlich sah sie die Vision wieder vor sich und sie wollte sich mit aller Gewalt dagegen wehren. Aber es half auch nichts, dass sie die Bettdecke über den Kopf zog, das Bild blieb.

Sie wachte die ganze Nacht hindurch. Am anderen Morgen versuchte sie ihren Gatten, den wir damals noch „Onkel Martin“ nannten, zu bewegen, uns zurückholen zu dürfen. Ja, sie wollte uns wieder haben, um jeden Preis, und sie war sich gewiss, dass es keine Hindernisse geben könnte, die sie nicht überwinden würde.

Dann war es wieder Morgen geworden. Die Sonne schien schon sehr früh zum Schlafzimmerfenster herein. Mutti war noch immer wach und lauschte auf das gleichmäßige Schnarchen meines Stiefvaters, der neben ihr im Bett lag. Der Wecker klingelte, aber er hörte nichts davon, sondern schlief seinen gesunden Schlaf weiter. Meine Mutter sah sich genötigt, ihn ein bisschen am Arm zu schütteln, und er fuhr wie von der Tarantel gestochen in die Höhe. Halb verschlafen wischte er sich die Augen.

„Was ist los?“

„Es ist Zeit zum Aufstehen, Martin!“

„Ach, und ich bin doch noch so müde!“

Dann kroch er langsam aus den Federn und streifte seine Kleider über, nachdem er sich mit einem Blick überzeugt hatte, wie spät es war.

„Na, da wollen wir wieder einmal,“ brummelte er. Er war nicht besonders bei Laune an diesem Tag, denn der Schlaf steckte ihm noch in den Gliedern. Aber es musste sein, die Arbeit durfte er wegen so ein bisschen Müdigkeit nicht versäumen. In der Küche trank er seinen Kaffee und verließ dann die Wohnung. Meine Mutter blieb allein. Nochmals las sie den Brief, den ich ihr vor drei Wochen geschrieben hatte, und der sie so glücklich gemacht hatte.

Dann schrieb sie sofort eine Antwort, die aber leider verloren gegangen ist. Sie überlegte hin und her, wie sie uns wohl am besten helfen könnte, und wandte sich an die deutsche Gesandtschaft in Asuncion, der sie auch eine Geldanweisung für uns schickte. Der Vertreter der Gesandtschaft, der auch in Luque wohnte, überbrachte uns das Geld.

Das war der erste Schritt, den meine Mutter getan hat, um uns beide wieder nach Deutschland kommen zu lassen. Es war der erste Schritt zu dem Kampf, den sie mit unerhörter Energie durchgefochten hat, ohne einmal zu verzweifeln. Der erste Schritt zu dem Kampf, in dem sie fast zum seelischen Wrack wurde, aber auch Siegerin blieb.


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